Über die Ränder der Formate hinaus…

Ein Interview zum "Orchester-Oscar" mit Manos Tsangaris
von Andreas Joh. Wiesand
 

Manos Tsangaris, geboren 1956 in Düsseldorf, studierte an der Musikhochschule Köln (u.a. bei Mauricio Kagel). Er arbeitet als Komponist, Autor, Zeichner und Schlagzeuger, war außerdem als künstlerischer Organisator tätig (u.a. 2002/03 im Leitungsteam des Schauspiels Köln). Seit 2009 Professor für Komposition an der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden und Mitglied der Akademie der Künste Berlin.

  

AJW: Beim wichtigsten oder jedenfalls traditionsreichsten internationalen Festival für Neue Musik, den Donaueschinger Musiktagen, erhielten Sie Mitte Oktober 2009 den KOMPOSITIONSPREIS DES SWR SINFONIEORCHESTERS, der gelegentlich auch als "Orchester-Oskar" tituliert wird. Die Auszeichnung ist in der Tat bemerkenswert, weil hier ja nicht eine Institution, also der SWR, oder eine Kritiker-Jury den Preis vergibt, sondern die Orchestermusiker selber, also ein Kollektiv von Professionellen. Was könnte dieser Preis für Ihre weitere Arbeit bedeuten?
 
Manos Tsangaris: Ich spekuliere selten in die Zukunft im Sinne von: Wenn dies passiert, könnte doch das resultieren – außer in meinen Stücken, da gehört es mit zum Grundstock so zu denken. In jedem Fall ist diese Preisvergabe aber eine kräftige Ermutigung für mich, denn damit war keineswegs zu rechnen, d.h. zu spekulieren gewesen, dass die Orchester-Jury gerade unser Projekt auswählt, das doch eher untypisch ist fürs Orchester-Repertoire: theatral, dezentral, über die Ränder der Formate hinaus komponiert usw.
 
AJW: Das SWR-Sinfonieorchester soll wohl nach den Statuten des Preises – wir haben danach im Internet leider vergeblich gefahndet – das prämierte Stück "Batsheba. Eat the History!" erneut in Szene setzen. Gibt es dafür schon konkrete Pläne?
 
M.T.: Nun, darüber haben wir am selben Tag noch geredet. Im Fall dieser Aufführungsfolge ist das natürlich nicht so einfach. Vielleicht werden wir zunächst Teilstücke in sinnfälligen Sequenzen wiederaufführen können. Aber ich bin da auch nicht besonders ungeduldig, es gibt im Moment einiges zu tun.
 
AJW: Die Preisvergabe war ja nicht unumstritten…
 
M.T.: …wäre doch langweilig, wenn alle immer einer Meinung wären, oder?
 
AJW: Ein Kritiker-Blogger auf der Webseite der neuen musikzeitung wunderte sich über die Entscheidung des Orchesters:
"will das orchester am ende selbst gar keine orchesterstücke mehr spielen? lieber kammermusik, wie im großteil des tsangaris? lieber mit licht und verkleidung und schönen mädchen – also musiktheater spielen?"
 
M.T.: Als ich mit Armin Köhler – ich glaube, es war im Jahr 2006 – zum ersten Mal den musikalischen Leiter Silvain Cambreling besuchte, um über das Projekt zu sprechen, legte dieser großen Wert darauf, besonders auch die solistischen und außergewöhnlichen Qualitäten der Musikerinnen und Musiker des Orchesters zu nutzen und zum Vorschein zu bringen.
Vor einigen Jahrzehnten schon begann ich, Rezeptions-Situationen konkret mit einzukomponieren. Wo befinden wir uns gerade, wenn wir Musik/Kunst/Theater wahrnehmen? Denn Öffentlichkeit stellt sich uns heute anders dar als noch vor einigen Jahrzehnten, auch politische Öffentlichkeit. Statt in der Masse, befinden wir uns am heimischen Herd und führen uns die Politikerstimmen zu – oder schalten sie ab.
Alles eine Frage der Schaltungen auf die einzelne, den einzelnen Empfänger hin.
Fürs Theater, das doch schaubar machen soll und will, hat das entscheidende Konsequenzen.
So begann „Batsheba. Eat the History!“ in kleinen individuellen Nestern, die um Mini-Zuschauergruppen herum gebaut waren, und ging dann stufenweise bis zur ganz großen Besetzung mit zwei Chören, zwei Orchestern plus Solisten. Etwa ein Drittel des Werks könnte man als kammer-musiktheatral bezeichnen.
Wer jemanden wir mich fragt, ein Stück zu schreiben, kann davon ausgehen, dass keine Konzert-Ritual-Situation dabei herauskommt. Deshalb fragt man mich.
Und wer oberflächlich und etwas bösartig draufguckt und daran vorbei hört, sieht dann nur Licht und Verkleidung usw.
Übrigens bin ich der fünfte Preisträger des SWR-Orchesterpreises und hierbei der erste, der das orchestron (den Tanzplatz des Chores, also ein Raum, keine fixe Institution) auf Wunsch aller Beteiligten etwas anders genutzt hat als es der konservative Geist gewöhnt ist. Wir brauchen von daher also noch nicht ums Orchester fürchten.
 
AJW: Könnte es sein, dass das Verhältnis zwischen Machern und Kritikern, im Vergleich zu anderen Sparten, in der Neuen Musik irgendwie besonders gestört ist?
 
M.T.: Nein, der kritische Diskurs gehört essentiell dazu.
 
AJW: Sind Festivals wie die Donaueschinger Musiktage eigentlich der beste Weg, etwas für mehr öffentliche Resonanz der Neuen Musik zu tun, oder treibt man sie da sogar noch mehr in ein Ghetto? Aber vermutlich liegt schon diese Frage daneben, weil es in Donaueschingen wohl eher um anderes geht, vielleicht um so etwas wie ein erweitertes Familientreffen aller Professionellen der Szene der Neuen Musik, bei dem – wie im Alltagsleben – durchaus auch die wechselseitigen Vorbehalte und Konkurrenzen zum Ausdruck kommen können?
 
M.T.: Die Frage liegt tatsächlich etwas daneben, weil Orte und Traditionen wie Donaueschingen und das zeitgenössische Komponieren überhaupt weniger den Publikums-Marktmechanismen gehorchen (dürfen), als das in anderen Gebieten automatisch der Fall ist. Das ist ein Labor, wo eine Art Grundlagenforschung betrieben wird, deren Wert oft nur indirekt und auf lange Sicht spür- und messbar wird. Ein gutes Beispiel liefert die Entwicklung der elektronischen Musik. George Martin, der Produzent der Beatles, war ein echter Kh. Stockhausen-Fan. Auf Sgt.Peppers, dem ersten Achtspur-Album der Popgeschichte hat er einige Techniken verwendet, die aus dem elektronischen Studio des WDR stammten – erklärtermaßen. Deshalb ist der gute Stockhausen auch neben Einstein und Marilyn Monroe auf dem Cover, rechts oben im Gruppenfoto zu sehen, in schwarzweiß und etwas verschämt.
Das ist nur ein Beispiel. Die ganze Elektrolurch-Entwicklung der letzten Jahre wäre ohne unsere Heroen nicht denkbar.
Und wie bei aller Grundlagenforschung geht es darum, nicht zu früh, zu mechanisch zu „verzwecken“, nach Nutzen und Profit zu fragen. Freiheit! Freie Forschung und Lehre ist unabdingbar. Sonst tanzen wir nur noch ums goldene Kalb herum.
Dass jede Szene auch ihre Klassentreffs benötigt und nutzt, ist abgesehen davon keine Schande und wichtig und gut so. Und Donaueschingen ist weit mehr als ein Spezialistentreffen. Der Andrang, besonders auch von jungen Leuten, ist immens. Und gerade im letzten Jahr hat die Kapazität des Festivals bei weitem nicht ausgereicht. Da kommen nicht nur Musiklehrer.
 
AJW: Vor allem am Beginn Ihrer Laufbahn erhielten Sie verschiedene Stipendien und Förderpreise, u.a.: Werkstipendium des Kunstfonds (1990), Bernd-Alois-Zimmermann-Stipendium der Stadt Köln und "composer in residence" in Moskau (1991), Stipendium der Akademie Schloss Solitude (1993/94), Kunstpreis Berlin der Akademie der Künste Berlin (Musikförderpreis 1997). Inwiefern waren diese Auszeichnungen damals wichtig für Sie (oder sind es noch heute)?
 
M.T.: Der Mensch braucht immer etwas Anerkennung, um weiter arbeiten zu können. Außerdem braucht er Brot.
 
AJW: Sie arbeiten ja sehr interdisziplinär: gibt es dafür nach Ihrer Erfahrung ausreichend Unterstützung, etwa in der Form von Preisen oder regelmäßigen Förderprogrammen?
 
M.T.: Interdisziplinär ist inzwischen fast schon ein Schimpfwort. Da haben wir so einen Fall wie oben beschrieben. Seit den siebziger Jahren waren die Schnittstellen, die Gelenke zwischen unterschiedlichen Sprach- und Wahrnehmungsystemen zentraler Untersuchungsgegenstand in meiner Arbeit. Es hat sie buchstäblich angetrieben.
Schon in den Achtzigern ging das Gerede vom Crossover los, womit dann schnell auch ein etwas undifferenziert modisches Gemenge gemeint war – aber nicht nur und in allen Fällen.
Heute heißt das „Medienpreise“ usw. Die Medien – damit sind meistens die technischen Medien gemeint, aber Medien gibt’s ja immer schon – sollen Schlüssel und Garant für relevante Kunst sein. Auch da läuft man hinterher. Man muss Inhalte fördern, Fragen, Sehnsüchte, Passionen. Das ist nichts Neues. Und unsere Zeit hat die alten kodifizierten Rahmensetzungen zerstört, aufgelöst, auch transzendiert. Absolute Musik wäre ohne die Konzertsaal-Schaltung des 19 Jahrhunderts nicht denkbar. Sie zeitigt ein theatrales Dispositiv, das in seiner Mitte eine leere Stelle erzeugt, und dort findet dort die „abgelöste“ (absolvere – ablösen) Musik ihren Raum. Schön und gut. Aber dann wird sie aufgenommen, überall abspielbar, und vor allem leicht zu unterbrechen. Wer aufs Klo muss, drückt die Pausentaste bei Beethoven. Das Ritual zerfleddert. Das Pathos bleibt.
Dieser Zusammenhang reflektiert unsere Lebenssituation. Alles verfügbar und entwertet. Musikmusik ist Soundtrack, der sich vernutzt hat und instrumentalisiert wird.
Die genauere Untersuchung der Kontexte und Kontextualisierungen tut Not!
 
AJW: Sie engagieren sich für den Plan, in Köln eine interkulturelle "Akademie der Künste der Welt" zu gründen. Was hat Sie dazu bewogen: soll die etablierte – oder "abendländische" – Kultur auf den Prüfstand, oder ist das vielleicht schon so eine Art Abgesang auf den gegenwärtigen Kulturbetrieb in Deutschland und Europa?
 
M.T.: Die sogenannte „abendländische“ Kultur steht ohnehin und andauernd und natürlicherweise auf dem Prüfstand, denn ihre Geschichte, wenn man genauer hinsieht, ist eine Geschichte ihrer Krisen (krisis = Entscheidung) und Formbildungen, kurz gesagt.
Und auch der „fremdländische“ Einfluss ist nie und nirgends von der Hand zu weisen. Nehmen wir beispielsweise die Schlaginstrumente unseres Orchesters. Die kommen so gut wie alle ursprünglich von sehr weit her, nämlich aus dem fernen Osten: Tomtoms aus China, Pauken kamen über die Türkei aus Iran, ursprünglich aus China. Becken: aus China, aus der Türkei usw.
Das Orchester ist ein Sammelsurium, das sich immer weiter entwickelt hat.
Also begrüßen wir doch unsere Kolleginnen und Kollegen von überallher und lernen etwas dabei. Das ist gar nicht so neu. Nur in manchen Köpfen nicht angekommen.

AJW: Danke für das Gespräch!

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