Adorno-Preis an eine "antisemitische" Jüdin?

(Vorläufige) Bestandsaufnahme eines Konflikts von Johannes Euler

Schon vor einigen Monaten hatte das Kuratorium des mit 50.000 Euro dotierten Theodor-W.-Adorno-Preises unter Vorsitz des Frankfurter Kulturdezernenten Professor Felix Semmelroth die neue Preisträgerin, die bekannte amerikanische Philosophin und Literaturwissenschaftlerin Judith Butler, zur Preisträgerin des Jahres 2012 gewählt. Am 11. September, dem Geburtstag Theodor W. Adornos, wurde die Autorin dann, begleitet von Protesten, für ihre einflussreichen Schriften zur politischen Theorie, zur Moralphilosophie und zur Geschlechterforschung in der Paulskirche geehrt.

In der Begründung des Kuratoriums ist zu lesen, dass hier "eine der maßgeblichen Denkerinnen unserer Zeit " ausgezeichnet werden soll: "Für Fragen über Identität und Körper sind ihre Schriften maßgeblich und werden weltweit rezipiert. Als Vordenkerin eines neuen Verständnisses von Kategorien wie Geschlecht und Subjekt, aber auch der Moral, ist sie immer dem Paradigma der kritischen Autonomie verpflichtet. Spurenelemente von Butlers Theoriegebäude finden sich in Werken der zeitgenössischen Literatur, dem Film, dem Theater und der Bildenden Kunst."

Im Vorfeld hatte sich diese Verleihung zu einer veritablen Affäre hochgeschaukelt, in deren Verlauf der Kern von Butlers wissenschaflticher Arbeit ( vgl. z.B. hier) immer mehr in den Hintergrund rückte: Nach verschiedenen Presseberichten und Blogs erklärte Ende August der Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, Stephan J. Kramer, es sei empörend, dass ausgerechnet jemand geehrt werde, der zum Boykott gegen Israel aufrufe und Organisationen wie Hamas und Hisbollah als legitime soziale Bewegungen bezeichne. Das Kuratorium des Preises, dessen Vorsitzender die Vergabe weiter verteidigt, traf ebenfalls Kramers Bannstrahl:

"Nur ein Kuratorium, dem die für seine Aufgabe erforderliche moralische Festigkeit fehlt, konnte Butlers Beitrag zur Philosophie formvollendet von ihrer moralischen Verderbtheit trennen."

Gelegentlich nahmen solche und andere Angriffe eigenartige Formen an, so etwa in der Stellungnahme einer sich angeblich als linksradikal verstehenden "Gruppe Morgenthau" aus Frankfurt:
"Eine Denkerin, deren Geschäft darin besteht, (…) den ubiquitären Antizionismus und Antiamerikanismus moralphilosophisch zu veredeln, mit dem Adorno-Preis zu würdigen, zeugt (…) vom instrumentellen Umgang, den man in Frankfurt mit dem Erbe der Kritischen Theorie pflegt".
Die Verleihung sei daher als "Grabschändung" des Kuratoriums zu verstehen, nachdem Adorno sich stets gegen Antisemitismus gewandt habe – ohne deshalb, sollte man vielleicht hinzufügen, die israelische Politik, etwa im 6-Tagekrieg, öffentlich zu verteidigen.

Der Publizist und Professor für Erziehungswissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt, Micha Brumlik sah dagegen in der Zeitschrift Konkret (Juli 2012) in Judith Butler "eine würdige Preisträgerin in der Tradition des theoretischen Ansatzes von Theodor W. Adorno", auch wenn er ihre Israel-Kritik nicht teilt. Dennoch:

"Judith Butler führt ihre Kritik der israelischen Politik (…) aus einer jüdisch-universalistischen Perspektive. Dabei begeht sie zweifelsohne Fehler. Die Frage, die mich dann interessiert, lautet: Wer ist eigentlich zuständig, eine Philosophin, die sich aus einer explizit auch jüdischen Perspektive heraus politisch so äußert, zu kritisieren?".

Hintergrund der Aufregung war Butlers bedingte Unterstützung der Bewegung "Boycott, Divestment, and Sanctions" (BDS), die sich vor allem gegen die israelische Siedlungspolitik im Westjordanland wendet. Dazu erläutert die Preisträgerin ihre Position in einem Beitrag, der am 27.8. vom amerikanischen Internet-Debattenforum mondoweiss.net publiziert wurde:

"I do support the Boycott, Divestment, and Sanctions movement in a very specific way. I reject some versions and accept others. For me, BDS means that I oppose investments in companies that make military equipment whose sole purpose is to demolish homes. It means as well that I do not speak at Israeli institutions unless they take a strong stand against the occupation. I do not accept any version of BDS that discriminates against individuals on the basis of their national citizenship, and I maintain strong collaborative relationships with many Israeli scholars. One reason I can endorse BDS and not endorse Hamas and Hezbollah is that BDS is the largest non-violent civic political movement seeking to establish equality and the rights of self-determination for Palestinians."

Zweifellos hat der Zank um Butler wieder einmal die potenzielle Brisanz "emblematischer" Preise demonstriert, die sich - so Georg Diez ("Verleiht einen, zwei, viele Preise!", SPIEGEL Online, 31.8.2012) - vor allem dann zeigt, wenn gegen eine aktuelle Verleihung protestiert wird,
"weil sie nur dann als Triebfeder der Demokratie, des Streits und des Diskurses funktionieren: Danke also an die 'Jerusalem Post', den Zentralrat der Juden und die marodierenden Wissenschaftler."

In Deutschland äußerte sich Butler zuletzt sehr differenziert, beinahe verständnisvoll, zu den Angriffen auf ihre Person, so vor allem in ihrem Beitrag "Fangen wir an, miteinander zu sprechen" in der Frankfurter Rundschau, ebenfalls am 31.8.2012.

Es mag sie vielleicht trösten, dass auch frühere Adorno-Preisträger von ähnlichen Angriffen nicht verschont wurden, so etwa der Israel-kritische Filmemacher Jean-Luc Godard, der französische Philosoph Jacques Derrida wegen seiner Nähe zum NS-belasteten Martin Heidegger, oder zuletzt sogar Alexander Kluge wegen seiner sublimen Beurteilung des NS-Films Jud Süss von Veit Harlan.

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