Der Literaturpreis: Ein Tauschobjekt?

Der Hamburger Kulturwissenschaftler Michael Dahnke M.A. untersucht derzeit "Tauschverhältnisse" bei literarischen Auszeichnungen. Für Anregungen ist er dankbar.  Dahnke (michael.dahnke (at) gmx.de) wird gegenwärtig zu diesem Thema an der Universität Göttingen promoviert.

Hier finden sich Einzelheiten zu seinem Konzept:

Vorstellung meiner Dissertation für die Online-Version des 'Handbuchs der Kulturpreise'

Von Michael Dahnke M.A.

Literarische Auszeichnungen sind im Literaturbetrieb und der Wissenschaft ein aktuelles Thema. Das verwundert angesichts 402 literarischer Auszeichnungen (>Preisnamen<) [1] allein für Deutschland, wie sie sich unter Literatur: Kulturpreise.de [2] findet, auch keineswegs.

Damit ist die Modellbildung zu Literaturpreisen in den Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses gerückt und der Autor verfasst gegenwärtig eine Dissertation über deutschsprachige Literaturpreise.

Der bisherige Kulminationspunkt der Theoriebildung ist ein Modell des Kulturwissenschaftlichen Sonderforschungsbereiches Ritualdynamik (SFB 619) der Heidelberger Ruprecht-Karls Universität.[3] In dessen Zentrum steht die Beschreibung der Verleihung literarischer Auszeichnungen als Ritus, ergänzt um das Gabentausch-Modell in der Version des französischen Soziologen Marcel Mauss’ (1872 –1950) und Theorieelemente des französischen Soziologen Pierre Bourdieu. Konkret interpretieren die Vertreter des SFB 619 das Geschehen rund um Literaturpreise primär als >Tausch< materieller und immaterieller Dinge zwischen dem auszuzeichnenden Autor und der preisverleihenden Organisation. Damit liegt zum einen ein in sich abgeschlossenes Beschreibungsmodell literarischer Auszeichnungen vor. Zum anderen schärft die Verwendung eines Gabentausch-Modells den Blick für zweierlei:
a) es handelt sich bei Literaturpreis-Verleihungen im Kern immer um Tauschgeschäfte;
b) deren Beteiligte suchen durch den Einsatz materieller und nicht-materieller Dinge etwas für sich selbst zu erhandeln.

Mit der vorzulegenden Arbeit wird das große und bislang in seinem Umfang nicht voll genutzte Potential dieses Ansatzes für eine deutlich umfassendere Modellbildung zur Beschreibung deutschsprachiger Literaturpreise fruchtbar gemacht.

Konkret werden in der Arbeit neben dem Autor und der auszeichnenden Institution weitere Akteure sowie die von diesen angestrebten Objekte und eingesetzten Mittel im Wettstreit um literarische Auszeichnungen in den Blick genommen. So werden Literaturpreise und deren Verleihungen vollkommen neu als Gabentausch modelliert. Nach der Fertigstellung des Modells wird dieses jetzt an bestimmten literarischen Auszeichnungen überprüft. Hierbei geht es um die Klärung der Frage, welchen Erkenntnisgewinn die Gliederung der Akteure rund um literarische Auszeichnungen als >Konkurrentengruppen< und ihre Beschreibung in verschiedenen Dimensionen zeitigt.

Angesichts mehrerer hundert Preise allein in Deutschland[4] sprengte es den Rahmen der Dissertation, das Modell an allen Literaturpreisen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz zu verifizieren. Daraus resultiert die Notwendigkeit eines >repräsentativen< Korpus, um den neuen Ansatz an demselben zu überprüfen. Diesem Mangel wird mit der zwei-schrittigen Erstellung eines >qualitativ repräsentativen< Korpus abgeholfen: i. e. a) wurde eine Typologie deutschsprachiger literarischer Auszeichnungen entwickelt und b) hernach zu jedem Typ ein Beispiel gewählt. Damit ließ sich die Verwendung einer in Menge oder Zusammenstellung willkürlichen Auswahl von Literaturpreisen vermeiden.

Für die Typensammlung wurden so unterschiedliche Kriterien wie die Erinnerungsfunktion für Literarisches oder Außerliterarisches, die politische Verortung der preisgebenden Organisationen, die angestrebten Zielgruppen oder literarischen Genres bis hin zu den Mitteln und Zielen der Akteure rund um literarische Auszeichnungen und deren Verleihungen verwendet. Als Grundlage der Korpuserstellung diente zunächst das Studium der Quellen zu den Auszeichnungen und den sie verleihenden und finanzierenden Einrichtungen. In einem zweiten Schritt erfolgte eine Erhebung mit einem Fragebogen, der den Organisationen zugeschickt wurde. Ziel war die Gewinnung möglichst umfassender Informationen in zwei Bereichen: erstens bezüglich des Charakters, den Zielen sowie finanziellen Grundlagen der preisverleihenden Einrichtung und zweitens zu Art, Umfang und Zielsetzung deren Literaturförderung. Aktuell steht die Materialrecherche für die letzten Auszeichnungen vor dem Abschluss.

Daneben wurden bestimmte Thesen zur Prüfung am Korpus formuliert, von denen einige einander dezidiert ausschließen. Es sind dies die 1. und die 2. These sowie die 1. und die 3. These:

  1. Für alle Verleihungen literarischer Auszeichnungen ist ein >Haupt<tauschverhältnis zwischen preisgebender Institution und Ausgezeichnetem charakteristisch.
  2. Es gibt zwei verschiedene Arten des >Haupt<tauschverhältnisses bei Literaturpreisen: Je nachdem, ob der Preis ausgeschrieben wird oder nicht, initiiert entweder die preisverleihende Institution den Tausch oder der auszuzeichnende Autor, Übersetzer oder Illustrator.
  3. Im Zusammenhang der Verleihung eines Literaturpreises gibt es mehrere Tauschverhältnisse unterschiedlicher Tauschpartner. Das Preisgeschehen ist nicht ausschließlich oder hauptsächlich durch die gemeinsamen Tauschhandlungen der preisverleihenden Institution und des Laureaten geprägt.
  4. Der Gabentausch als häufigste Handlungsform der verschiedenen Konkurrenten ist charakteristisch für Literaturpreisverleihungen.
  5. Der >preisverleihenden Institution< wird von der Mehrheit der Akteure im >literarischen Feld< die Fähigkeit zugeschrieben, innerhalb der ständig wachsenden Menge des Publizierten das der Bezeichnung >Literatur< Würdige erkennen zu können (Konsekrationsfähigkeit).
  6. Literarische Auszeichnungen werden von den Beteiligten häufig als Mittel zum Gewinn >symbolischen Kapitals< betrachtet.

Wenn das skizzierte Modell wie geplant funktioniert, ist damit nicht nur eine vollkommen neue Modellierung von Literaturpreisen und deren Verleihungen als Gabentausch möglich. Damit gelänge auch die Überwindung einer dem Autor allzu schematisch scheinenden Anwendung von Mauss’ Gabentausch-Theorie auf das Geschehen rund um Literaturpreise.

Durch die Erweiterung der Untersuchungsperspektive auf alle relevanten Aktanten wird klar: es handelt sich bei den meisten, wenn nicht allen literarischen Auszeichnungen mitnichten nur um einen klassischen Tausch. Zentrale Akteure sind neben den preisverleihenden Organisationen und Autoren beispielsweise die Juroren, eine literarisch interessierte Öffentlichkeit und die Verlage.

Wenn man schließlich das, was man durch die Herausarbeitung der Konkurrenzobjekte und -mittel gewinnt, als >Spielregeln< (Handlungsanweisungen) für einzelne Akteure formuliert, eignet dem Modell möglicherweise auch ein gewisses prognostisches Potential.

Anders gesprochen könnten die >Spielregeln< ein Schritt auf dem Weg zur Klärung folgender Fragen sein:

a) Was muss jemand finanziell u n d nicht-ökonomisch in die Gründung einer literarischen Auszeichnung investieren?

b) Welche Faktoren sind für den Erfolg oder Misserfolg einer Preisgründung maßgeblich?

c) Was kann ein Preisgründer mit der Auszeichnung für sich selbst gewinnen?

Der Abschluß der Arbeit ist für das kommende Frühjahr vorgesehen



[1]Für eine erste kurze Erklärung der Unterscheidung von >Preisnamen< und >Preiseinheiten< cf. FN 10 auf S. XVIII im Vorwort des Handbuches der Kulturpreise 4. Preise, Ehrungen, Stipendien und individuelle Projektförderungen für Künstler, Publizisten und Kulturvermittler in Deutschland und Europa, herausgegeben von Andreas Johannes Wiesand. Bonn: ARCult Verlagsbuchhandlung Kultur & Wissenschaft. 2001. Auch online einsehbar unter http://www.kulturpreise.de/web/images/File/EinfuehrungHandbuch2000.pdf.

[3]Wesentliche Veröffentlichungen dazu sind: 1. Dücker, Burckhard/Dietrich Harth et al.: Literaturpreisverleihungen: ritualisierte Konsekrationspraktiken im kulturellen Feld; 2. Dücker, Burckhard/Verena Neumann: Literaturpreise. Register mit einer Einführung. Literaturpreise als literaturgeschichtlicher Forschungsgegenstand, beide 2005; und 3. der nur gedruckt vorliegende Aufsatz B. Dückers: Literaturpreise. In: Schnell, Ralf [Hrsg.]: Veränderungen des Literaturbetriebs. Schriftenreihe: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik. 39. Jg. 2009 (154). Stuttgart: Metzler. 54–76.

[4]Wiesand, Andreas Johannes: Kulturpreise weiter im Aufwind. In: Wiesand, Andreas Johannes [Hrsg.]: Handbuch der Kulturpreise – Handbook of Cultural Awards. K¨oln: ARCult Media. Februar 2010 [http://www.kulturpreise.de/web/analysen.php?articles_id=2420. 12. 2011].

 

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