"KULTURINFARKT": Von allem zu viel und überall das Gleiche?

Gespräch mit Dieter Haselbach, einem der Autoren der aktuell umstrittenen Polemik gegen den etablierten (öffentlich geförderten) Kulturbetrieb: Dieter Haselbach, Armin Klein, Pius Knüsel, Stephan Opitz: "Der Kulturinfarkt" (Knaus 2012, 288 S., 19,99 €)
Viel Lärm um Wenig? Oder doch ein ernsthafter Anstoß zu einer überfälligen Debatte? Andreas Johannes Wiesand, bis 2008 selbst Direktor des nun unerwartet ebenfalls in die Schusslinie geratenen Zentrums für Kulturforschung, versucht eine Klärung. Dabei geht es auch um Kulturpreise, die den Autoren "als gutes Beispiel für die Verabsolutierung der Angebotspolitik" des subventionierten Kulturbetriebs dienen sollen.

A. J. Wiesand: Vielleicht zu Beginn zwei Vorbemerkungen zum "Kulturinfarkt"-Buch, von denen die erste sich offenbar nicht von selbst versteht, wie manche überzogene Reaktionen gezeigt haben:

  1. Kritisches Hinterfragen etablierter Verhältnisse ist gerade im kulturellen Bereich nicht nur legitim, sondern müsste eigentlich als eine Art intellektuelle Selbstverpflichtung aller Beteiligten im Kulturbetrieb verstanden werden.
  2. Andererseits: Lesern des neuen Buches wird auffallen, dass man bei einigen der aufgespießten Probleme zunächst geneigt ist, zustimmend zu nicken – mit unflexiblen Haushalten, politischen Einflüssen, Kompetenzdefiziten, dem unsäglichen Begriff der "Kulturhoheit", der Tendenz zur (vergeblichen) Indienstnahme der Künste für einen Ausgleich sozialer und wirtschaftlicher Defizite, oder der Überschätzung von Patentrezepten wie "Umwegrentabilität" usw. haben schließlich viele ihre Erfahrungen gesammelt. Die vorgeschlagenen Lösungen erscheinen dann aber oft weniger einleuchtend, z.B. wenn unter dem doch eher marktradikalen Motto "Verknappung schafft Vielfalt" fast alles durch Einsparungen oder sogenannte "Freistellungen", sprich: Schließungen, geregelt werden soll, statt administrative Reformen endlich ernsthaft anzugehen.

Um es dann auch mal polemisch in guter Thatcher-Manier zu überspitzen: Wenn die öffentliche Gießkanne wirklich das zentrale Problem ist, warum dann nicht statt 50% lieber gleich den ganzen Laden erst mal dichtmachen, bis der Markt alles wundersam geregelt hat?

D. Haselbach: Aus der erregten öffentlichen Diskussion habe ich gelernt, dass Texte nicht mehr gelesen werden, vielleicht auch: … interessiert nicht mehr gelesen werden. Die Aufregung über unsere Thesen bezieht sich auf zwei Punkte. Zum einen darauf, dass wir die Hälfte der Kulturetats einsparen wollen. Nur: Das haben wir nirgends geschrieben. Zum anderen darauf, dass wir die Hälfte der Kulturinstitutionen schließen wollen. Das haben wir als einen – zugegeben drastischen – Denkanstoß formuliert, nicht aber als eine Forderung. Ohnehin fordern wir nichts anderes als dies: Dass eine neue, tabulose konzeptionelle Diskussion über öffentliche Kulturförderung ansteht. Und dass diese Diskussion neben kulturfachlichen auch ordnungspolitische Gesichtspunkte aufnimmt, die bisher in der Kulturdiskussion nicht berücksichtigt wurden.

AJW: Das Muster des Buches ist ja relativ klar und ich gebe am besten gleich zu, dass ich diese ideologiekritische Methode in den letzten 40 Jahren selber ab und zu eingesetzt habe: Man nehme einen populären aber (inzwischen) ideologiebesetzten Topos – hier also Hilmar Hoffmann's "Kultur für Alle", heute könnte das aber z.B. auch "Kreativwirtschaft" sein – und stelle dann mit Verve fest, dass der hinten und vorne nicht passt, also die versprochenen Wunder in der Realität nicht geliefert werden (können). Da kann dann eigentlich kaum noch etwas schief gehen…

D.H.: Unser Argument möchte mehr als das Abspielen einer ideologiekritischen Melodie sein. „Kultur für alle“ war ja nicht nur ein populärer Topos, sondern realer Antrieb für den Ausbau der gebauten Infrastrukturen. Es war das Motiv hinter einer Preispolitik, die Zugangsschwellen senken wollte, über die aber niemand zusätzliches in die alten und neuen Tempel eintrat. „Kultur für alle“ wollte über das Angebot die Nachfrage schaffen. Schließlich stand hinter „Kultur für alle“ ein volkserzieherisches Motiv: Es sollte zumindest die richtige Kultur sein, bei der die sich „alle“ finden sollen. Also nicht bloße Ideologie, sondern eine durchaus wirkmächtige. Noch heute steht „Kultur für alle“ hinter einem großen Teil der kulturpolitischen Taten, noch heute muss alles in die Fläche gehen, um alle zu erreichen.

AJW: Vor allem der vorgeschaltete Artikel im SPIEGEL vom 12. Marz ("Die Hälfte?") hat den zu erwartenden Aufschrei hervorgerufen, was dem Absatz des Buches sicher förderlich ist. Sie haben allerdings auch dem Zentrum für Kulturforschung (ZfKf), dessen über 40jährige Arbeit mir immer noch am Herzen liegt, Drohungen mit Liebes- oder Auftragsentzug eingebracht. Kein Wunder, steht doch manches – nicht alles! – im Widerspruch zu dessen empirischen Forschungsergebnissen.

D.H.: Die Verrohung der Sitten im öffentlichen Diskurs in Deutschland lassen sich an diesem Beispiel demonstrieren. Mit anderen Autoren schreibt Haselbach ein kontroverses Buch. Die Autoren wagen sogar, einige Überlegungen vorab in den Spiegel zu stellen. Als Antwort wird das Zentrum für Kulturforschung, an dessen Arbeit mir auch viel liegt, mit mehr als Liebesentzug bedroht, es wird ihm bedeutet, dass es aus dem Kreis der förderbaren Institutionen sich wohl verabschiedet habe. Es wird bedroht für eine kulturpolitische Äußerung eines Autorenkreises, der sich erlaubt, aus den Forschungsergebnissen des Zentrums Schlüsse zu ziehen. Ich lerne daraus: Wer sich aus dem obligatorischen Konsens der Kulturpolitik heraustraut, wird bestraft. Und alles, mit dem er zu tun hat, wird in Kontaktschuld genommen. Dies noch bevor überhaupt die Argumente der Dissidenten geprüft wurden. Denn all dies geschah, bevor unser Buch überhaupt auf dem Markt war.
Ich habe die Konsequenz gezogen und meine Tätigkeit für das Zentrum ausgesetzt. Und ich habe etwas gelernt.

AJW: Die reichlich provozierende Werbung für das Buch – z.B. "Von allem zu viel und überall das Gleiche" – hat sicher zum allgemeinen Unmut beigetragen. Ganz unbeabsichtigt war das wohl nicht…

D.H.: …als wir den Untertitel wählten, hatten wir genau das im Sinn, was in der Frage angesprochen ist. Die gebaute Infrastruktur und die Kosten zur Unterhaltung und Bespielung dieser Infrastruktur, das treibhausmäßige Wachstum der Festivals und Formate, dies alles bei einem nicht nennenswert wachsenden Publikumsinteresse, ist Gegenstand unserer Kritik. Die Spielräume werden so immer kleiner, neue Formen und Inhalte können kaum mehr zum Zuge kommen oder können dies allenfalls als kleine Zusätze in den etablierten Institutionen.

AJW: Ich kann manche Thesen sogar bis zu einem gewissen Grad verstehen, weil ich selbst die ständige Vermehrung etwa von Standard-Festivals, Museumsneubauten oder teuren Konzerthäusern kritisiere, bei denen Fragen nach Inhalten oder Profilen und Folgekosten oft von Prestigedenken oder Einflüssen der Bau-Lobby überdeckt werden. Schon vor über dreißig Jahren hatte ich u.a. in der – im Buch übrigens unvollständig und in unzutreffendem Kontext zitierten – Bestandsaufnahme "Musik / Statistik / Kulturpolitik" Frust z.B. über seit Jahrzehnten kaum veränderte Spielpläne der Musiktheater geäußert.

D.H.: Wir kritisieren letztlich, dass in der verwalteten Kultur der 80er, 90er und der 00er Jahre des dritten Jahrtausends Entwicklung festgeschrieben, also verhindert wird, während sich die Ansprüche auf Subventionen verewigen.

AJW: Ironie der Geschichte: Unsere damalige Bestandsaufnahme wurde vom Bundesinnenministerium und vom Deutschen Musikrat finanziert, also den beiden Instanzen Staat und "Lobbies", die im "Kulturinfarkt" als Hauptverantwortliche für Blockaden in der Kulturpolitik identifiziert werden, hier aber Transparenz förderten…

D.H.: Alles hat seine Zeit. Damals wäre ich wahrscheinlich mit im Boot gewesen, jetzt sehen wir auf die Folgen einiger Jahrzehnte starken institutionellen Wachstums in der Kultur. Jetzt sehen wir auf eine Situation der Generationenungerechtigkeit, in der die „Soziokultur“ noch die letzte kulturelle Generation ist, die im Westen – wenn auch unter ungünstigen Bedingungen – noch in eine institutionelle Förderung hineinkam. Seitdem sind allenfalls Projekte erreichbar. Die junge Generation lebt längst in der Kulturwirtschaft.

AJW: Es ist sicher richtig, dass die Kulturwirtschaft in der Politik und in den Feuilletons lange verdrängt wurde – aber seit gut einem Jahrzehnt kann man das doch eigentlich nicht mehr behaupten, heute scheint, auch in der EU, doch eher das Gegenteil der Fall zu sein. Man könnte vermutlich sogar Belege dafür finden, dass gerade diese Ausweitung des Kulturbegriffs, dieser in der Realität ja kaum einlösbare Kompetenzanspruch der Kulturpolitik für alles und jedes, mit zu den aktuellen Problemen der Kulturfinanzierung beiträgt.

D.H.: Dass Kultur heute auf dem Markt stattfindet, ist so nicht etwa eine Forderung der Autoren des Buches, sondern gelebte Realität für wachsende Teile der in der Kultur Tätigen. Was uns umtreibt, ist dieses Schisma zwischen einer offiziell mit Wert behafteten, deshalb gut geförderten Kultur, und einer Kultur der nächsten Generation, die sich selber über Wasser hält und gerade deshalb als kommerziell heruntergemacht wird.

AJW: Noch einmal zurück zum Vorwurf des "immer gleichen": Mir scheint das etwas ambivalent zu sein, weil damit, wie auch sonst im Buch, die ganze Kulturproblematik eher aus der "Vogelschau" beleuchtet wird. Geht man die Sache mal von der "Froschperspektive" an, berücksichtigt also, dass es ja nicht nur die Metropolen mit ihrem überreichen (und z.T. sehr teuren!) Angebot gibt, sondern tausende kleinere Städte oder Gemeinden und ihre öffentlichen oder privaten Organisatoren jeweils vor Ort auch etwas bieten wollen, müssen sich – betrachtet man nur das Gesamtbild – fast zwangsläufig Wiederholungen oder Präsentationen einstellen, die nicht immer den Gipfel der Innovation darstellen (können). Dafür können sie in nicht gerade kulturverwöhnten Landstrichen vielleicht eine andere, intimere Art des Zugangs zur Kunst oder von "Individualität" bieten, die das Buch ja ständig anmahnt. Will man hier das Kürzungsrezept anwenden, wäre oft tabula rasa die Folge. Oder in der Denke der Autoren: Nachfrage würde auf kein Angebot (mehr) stoßen.

D.H.: Zunächst: Wir vertreten kein Kürzungsrezept. Dann: Gerade aus meiner Arbeit in der Fläche weiß ich, dass derzeit in einer Schere zwischen stagnierenden oder (in manchen Regionen der Republik: sinkenden) kommunalen Etats auf der einen und steigenden finanziellen Erfordernissen in der institutionellen Förderung die frischen, neuen, lebendigen Ansätze am ehesten dem Rotstift zum Opfer fallen. In der Fläche muss es darum gehen, langfristig bezahlbare Zugänge zur Kunst zu erhalten oder zu schaffen. Und es schadet dann nichts, wenn nicht jede Gemeinde über 50.000 Einwohner eine Kunsthalle und ein Bespieltheater und ein Stadtmuseum unterhält. Es braucht ganz einfach nicht überall alles. Es braucht vielmehr bescheidene, aber solide Strukturen mit ausreichender Publikumsbasis. Das wünschen wir. Darüber hinaus stellen die digitalen Medien weitere kulturelle Erfahrungen zur Verfügung.

AJW: Nähern wir uns diesem Problem doch mal aus der Perspektive des "Handbuchs der Kulturpreise" bzw. seiner Online-Version, für die wir dieses Gespräch führen. Es gibt z.B. knapp 100 Preise, die den stereotypen Titel "Kulturpreis der Stadt X" (oder des Landkreises Y) führen und oft auch mit ähnlicher Zielsetzung und in ähnlichen Verleihungsritualen vergeben werden. Nach der "Kulturinfarkt"-Lektüre möchte man fragen: Ein Anlass, die Hälfte oder mehr davon einzustampfen? Das würde dann aber außer Acht lassen, dass z.B. der Kulturpreis der Stadt Gronau oder der des Landkreises Steinburg vermutlich das einzige Förderinstrument darstellt, das für Künstler, Autoren oder Bürgerinitiativen der jeweiligen Region zur Verfügung steht – und ohnehin bei geringer Dotierung nur alle 2 oder 3 Jahre verliehen wird…

D.H.: Wir möchten jedem Preisträger sein Geld gönnen. Doch wenn Preise mit öffentlichem Geld finanziert werden, gehören sie genauso wie alle anderen öffentlichen Aufgaben immer wieder auf den Prüfstand einer haushaltlichen Aufgabenkritik. Die erfolgt vor Ort und nicht durch die Autoren des „Kulturinfarkt“. Zu fragen ist: Sind die Kriterien noch angemessen? Erzeugen sie überhaupt eine Wirkung? Entwickelt sich was oder werden hier nur Trostpreise verteilt? Es kann langweilig werden, wenn wir auf jede Frage danach, ob hiervon auch die Hälfte gekürzt werden soll, die gleiche Antwort geben: Darum geht es uns nicht, es geht uns darum, einen Denkanstoß über institutionelle Kulturförderung zu geben. Preise sind gegen diese Kritik weitgehend gefeit, da sie jederzeit änderbar sind. Die Opposition gegen das „Wir können auf nichts verzichten“ hingegen braucht einen starken Aufschlag.

AJW: Wie zu erwarten, soll die in der Tat umfangreiche deutsche Preiselandschaft ebenfalls als Beleg für die Thesen der "Kulturinfarkt"-Autoren dienen, nämlich "als gutes Beispiel für die Verabsolutierung der Angebotspolitik" des subventionierten Kulturbetriebs (S. 113). Diese Deutung relativiert sich allerdings bedenkt man, dass lediglich etwa 30% aller Kulturpreise von Bund, Ländern oder Kommunen vergeben werden, bei noch einmal knapp diesem Anteil sind öffentliche Stellen nur einer der Partner und der große Rest wird allein von Stiftungen und Vereinigungen, Medien, der Wirtschaft und Einzelpersonen ausgerichtet. Darüber hinaus sind leider auch die Zahlen für die exemplarisch angeführten Literaturpreise nicht korrekt: Statt der im Buch genannten 788 Auszeichnungen gibt es hier, je nach Zählweise, nur 358 oder, zählt man die jeweiligen Unterkategorien (wie Förderpreise) hinzu, etwa 520, die aber meist nicht jedes Jahr vergeben werden. Vielleicht noch wichtiger: In traditionellen Sparten wie Literatur, Darstellender Kunst oder Musik ist die Zahl der noch aktiven Preise im letzten Jahrzehnt deutlich, genauer: um 15%, gesunken. Dagegen hat sich das Förderangebot in Feldern wie Sozio- und Interkultur, Architektur oder Medien stark erhöht, teilweise um über 50%. Ist das nicht eher ein Beleg dafür, dass die im Buch angemahnte Modernisierung längst im Gange ist – vielleicht sogar schon über's Ziel hinausschießt?

D.H.: Was die Zahl der Preise angeht, haben wir einen weiteren Ansatz angelegt. Erfreulich, dass sich bei den Kulturpreisen etwas tut. Das habe ich von Anfang an beim Handbuch der Kulturpreise mit Vergnügen beobachtet, dass hier die Forschung unmittelbar wirkt, in einer Verminderung der Preise wie auch in einer Erhöhung der Preisgelder. Das Handeln von Stiftungen etc. wollen wir hier überhaupt nicht kritisieren. Wir zweifeln auch gar nicht am Willen vieler Akteure der Kulturförderung, mit der Zeit zu gehen. Wir stellen einfach fest, dass die gebaute Infrastruktur Ansprüche und Aufträge verfestigt. Sie demonstriert auch Autorität – eine Autorität, von der sich die junge Generation abwendet, indem sie ihr Heil in Netzwerken und selbst gebastelten Videos sucht. Preise sind im Vergleich dazu höchst anpassungsfähige Förderinstrumente, die von Ihnen skizzierten Entwicklungen beweisen es.

AJW: Teilweise knüpft das Buch an uralte APO-Thesen vom elitären, nur von winzigen Minderheiten frequentierten (öffentlichen) Kulturbetrieb an – die zahlreichen Umfragen und anderen empirischen Arbeiten des schon erwähnten Zentrums für Kulturforschung belegen das aber so nicht, jedenfalls nicht für eine Gesamtperspektive, in der viele Minderheiten durchaus zu Bevölkerungsmehrheiten werden und sogar die Oper selbst von jenen als unverzichtbar angesehen wird, die sie nicht besuchen…

D.H.:  Hier sind zwei Aussagen vermischt. Die letztere bezieht sich auf das bekannte Phänomen des Optionsnutzens. Je nachdem, wie man fragt, werden auch Nicht-Nutzer von Kulturtempeln ihren Erhalt befürworten, weil man könnte ja mal hingehen wollen. Stellt man die Frage anders, nach Alternativen in der Geldverwendung und unter Nennung von Summen (Zuschuss pro verkaufter Karte, Gesamtzuschuss für die Institution), dann kommt die Öffentlichkeit mehrheitlich leicht auch zu ganz andere Abwägungen. Nach den von den Autoren ausgewerteten Kenntnissen bleibt die Zahl der intensiven Kulturnutzern bei ca. 10 Prozent. Das sagt nicht, dass diejenigen, die öffentliche Institutionen nicht oder nur gering frequentieren, nicht auch ihre Formen kultureller Aktivität gefunden haben. Aus demokratischer Sicht harrt die Frage, weshalb eine Mehrheit das intellektuelle Vergnügen einer Minderheit finanzieren soll, heute wieder einer glaubwürdigen Antwort. Die Schweizer übrigens lösen das mit Volksabstimmungen. In den meisten Fällen gehen die Subventionen durch.

AJW: Dennoch ist für mich als Leser so etwas wie "Kunstverdruss" spürbar. Dabei erscheint dann die Arbeit von Künstlern als irgendwie uniform oder uncool, die von Kulturinstitutionen wie z.B. Theatern, Museen, Volkshochschulen oder Musikschulen als entweder überfordert oder eher altbacken. Konsequenz am Schluss des Buches: Statt "Jedem Kind ein Instrument" soll der Staat, so die Autoren, lieber "jedem Kind ein Tablet", also einen schnieken Mini-Computer spendieren (S. 279). Auch ich habe bei Projekten wie JEKI meine Bauchschmerzen, aber ist diese Alternative nicht reichlich simpel – und zugleich willkommene PR für Hersteller, die selbst (anders als die meisten öffentlichen Einrichtungen) über reichlich Kohle für ihre Marketing-Strategien verfügen?

D.H.: Das mag plakativ wirken – aber vielleicht nur, weil es so einleuchtend ist. Im Ernst: Wir stellen hier die Frage danach, wie kulturelle Aktivität und Kulturkonsum sich im digitalen Zeitalter entwickeln werden. Wir sind sicher, dass es Verschiebungen geben wird und dass die Kulturinstitutionen des vordigitalen Zeitalters an Bedeutung verlieren werden. Viele werden obsolet werden. Es zeichnen sich neue Formen der Produktion wie der kulturellen Konsumption ab. Solches muss Kulturpolitik antizipieren, bevor sie weitere Hunderte von (nicht vorhandenen) Millionen in neue Museen, Theater und Konzerthallen investiert. Die im übrigen mindestens so schniek sind wie Tablet-Computer, bloß dass sie dem Staat über Jahrzehnte auf dem Magen liegen.

AJW: Gibt es denn heute keine interessanten Strategien einer stärkeren "Öffnung" der Kulturhäuser – ich erlebe das z.B. bei der Kölner Philharmonie – oder zunehmend auch interkulturell offene Projekte der Kulturellen Bildung, die mehr Förderung verdienen?

D.H.: Ja, gibt es, alle bemühen sich. Wo sagen wir etwas anderes? Wir meinen nur, das Modell der institutionellen Kulturvermittlung habe die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit erreicht. Alle zeitgemäße Vermittlungsarbeit inbegriffen, bleibt ein Konzerthaus ein Konzerthaus. Und wird der Traum einer gebildeten Oberschicht bleiben, einige Aufsteiger mit gezählt. Was uns fehlt, ist der Wille zur Förderung mobiler, ephemerer, meist digitaler Kulturerfahrung, die ins Leben der Bürgerinnen und Bürger unterschiedlicher Herkunft reicht. Uns erschüttert, dass die geförderte Kulturwelt Kultur nur im institutionellen Rahmen als solche wahrnehmen kann – und deshalb den Vorschlag, die Zahl der Institutionen zu halbieren, als Halbierung der Kulturetats empfinden muss. Wir sind überzeugt, dass es jenseits der Backsteine eine relevante, inhaltlich reiche und anspruchsvolle Kulturproduktion gibt, die einer „Kultur für alle“ viel näher kommt als die großen Tempel. Sie ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken und ihr Ressourcen zukommen zu lassen, die sie auch global handlungsfähig werden lässt, ist unser primäres Anliegen. Nie wollten wir mit dem Bulldozer durchs Land fahren und Theater plattwalzen.

AJW: Es war wohl nicht zu erwarten, dass wir in allen Punkten einer Meinung sind. Trotzdem Danke dafür, dass mit dem ja zutreffend als "Polemik" gekennzeichneten Buch wieder einmal Anlass zu einer Grundsatzdebatte über unsere Kulturlandschaft gegeben wird, die hoffentlich dazu beiträgt, sie noch lebendiger und produktiver zu machen.

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